Die Wahrheit

... Das erste Mal in meinem Leben erfahre ich die Wahrheit dessen, was so viele Denker als der Weisheit letzten Schluss aus ihrem Leben herausgestellt und was so viele Dichter besungen haben; die Wahrheit, dass Liebe irgendwie das Letzte und das Höchste ist, zu dem sich menschliches Dasein aufzuschwingen vermag. Ich erfasse jetzt den Sinn des Letzten und Äussersten, was menschliches Dichten und Denken und - Glauben auszusagen hat: die Erlösung durch die Liebe und in der Liebe! Ich erfasse, dass der Mensch, wenn ihm nichts mehr bleibt auf dieser Welt, selig werden kann - und sei es auch nur für Augenblicke -, im Innersten hingegeben an das Bild des geliebten Menschen. In der denkbar tristesten äusseren Situation, in eine Lage hineingestellt, in der sich nicht verwirklichen kann durch ein Leisten, in einer Situation, in der seine einzige Leistung in einem rechten Leiden - in einem aufrechten Leiden bestehen kann, in solcher Situation vermag der Mensch, im liebenden Schauen, in der Kontemplation des geistigen Bildes, das er vom geliebten Menschen in sich trägt, sich zu erfüllen...

 

Viktor E. Frankl  (1905-1997)
Österr. Neurologe und Psychiater
Aus dem Buch „... trotzdem ja zum Leben sagen„